Die Corona-Krise. Versuch einer theologischen Deutung von Vikar Philipp Huber, Pfarrer Frank Nico Jaeger und Pfarrer Holger Grewe

Die Krise als Entscheidung

Die Corona-Pandemie erschüttert die gesamte Welt und stellt alle Ordnungen und Systeme auf den Kopf. In besonderer Intensität wird uns bewusst, dass wir trotz vieler technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften kaum Kontrolle über die Natur haben. Deutlich spüren wir: Die Welt ist nicht beherrschbar. Zugleich zeigt sich uns in dieser Ausnahmesituation auf radikale Weise die Verletzlichkeit menschlichen Lebens. Das Virus unterscheidet nicht zwischen Reich und Arm, Alt und Jung, Nationalität oder Stand. Als eine Kraft des Chaos kann sie jeden treffen. Dennoch versuchen wir die chaotischen Zustände zu bändigen, welche die Krise der Corona-Pandemie auslöst. Zudem fragen wir uns, welche Bedeutung, welcher Sinn, hinter dieser und anderer Krisen stecken könnte. Der folgende Text versucht eine theologische Antwort auf Krisen wie die Corona-Pandemie zu finden.

Der Begriff Krise kommt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich Entscheidung, Unterscheidung oder entscheidende Wendung. Eine Krise ist dabei im Griechischen eine kritische Situation, in denen Grundsätzliches auf dem Spiel steht. Krisen werden damit auch in der ursprünglichen Bedeutung nicht schöngeredet. Die Bedeutung des Wortes im griechischen Original bedeutet aber auch, dass die potenzielle Bewältigung einer Krise als einer kritischen Situation bereits angelegt sein kann, wenn wir sie als eine entscheidende Wendung oder Unterscheidung verstehen.

 

Die Schöpfung als erste Krise

Bereits die Schöpfungserzählung der Bibel handelt von einer Krise und ihrer Bewältigung. In den ersten beiden Tagen der Schöpfung scheidet Gott das chaotische Tohuwabohu der Finsternis und der Urflut von dem von ihm geschaffenen Licht und der Feste zwischen Himmel und Erde ab. Gott schafft aus einer lebensfeindlichen Situation einen Raum, in dem sich Leben entwickeln kann (1. Mose 1, 1-8). Diese Krise als Unter-scheidung zwischen Leben und Tod, Licht und Finsternis führt hier zu etwas Positivem. Sie führt dazu, dass nicht Leben vernichtet wird, sondern neues Leben entstehen kann. Gott drängt das Chaos zurück, um das künftige Leben auf der Erde nicht zu gefährden. Die Schöpfung ist dabei davon abhängig, dass Gott die Mächte des Chaos auch weiterhin im Zaum hält.

Die Geschichte von der Sintflut (1. Mose 6-9) erzählt davon, dass Gott die Mächte des Chaos freilässt, indem er die Schleusen der Urflut öffnet (1. Mose 7, 11f.). Wenn Gott sich in dieser Geschichte durch die Sintflut dazu entscheidet, sämtliche Menschen und Tiere auf der Erde auszulöschen, führt er nur das zum Ende, das allem Leben geblüht hätte. Denn durch den unkontrollierten Anstieg von Bosheit und Gewalt hätte es sich irgendwann selbst ausgelöscht (1. Mose 6, 5).[1] Mit der Rettung von Noah und seiner Familie und den Tieren auf der Arche bestätigt Gott zudem, dass er weiterhin an seiner Entscheidung für das Leben festhält. Am Ende der Sintflut legt Gott durch einen Bund mit den Menschen ohne Bedingungen vertraglich fest, dass er die Schöpfung nicht mehr vernichten will (1. Mose 9, 9-17). Das Leben auf der Erde geht weiter und das in einem Kreislauf von Werden und Vergehen: Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht (1. Mose 8, 22). Für die biblischen Erzähler*innen ist das auch gut so, wie es schon am Anfang der Schöpfungserzählung heißt (1. Mose 1, 31). Werden und Vergehen sind Teil von Gottes guter Schöpfung. Naturkatastrophen wie Erdbeben und leider auch das Corona-Virus sind Teil dieses Kreislaufs und an sich gut. Das bestätigen auch die Naturwissenschaftler*innen, weil Viren Teil des Mechanismus sind, der Leben hervorbringt und weiterentwickeln lässt.[2]

 

Höherer Sinn einer Krise?

Viel wird derzeit darüber spekuliert, ob hinter dem Virus ein besonderer göttlicher Plan stecken könnte. Manch einer vermutet sogar, der Teufel habe seine Finger im Spiel. Das Virus erscheint dann als eine Strafe Gottes oder soll zumindest zu einem Umdenken bzw. einer Änderung des eigenen Verhaltens führen. Damit wird dem Virus ein erzieherischer Sinn[3] abgewonnen, der oft zu angstvollen Deutungen (z.B., dass Corona die Strafe für  Homo- und Transsexualität, Sterbehilfe, Abtreibung etc. sei)[4] und Handlungsvorschlägen führt, wenn etwa ausschließlich Beten und Fasten Allheilmittel für das Virus sind.[5] Der Blick auf die Schöpfungserzählung und den naturwissenschaftlichen Hintergrund zeigt jedoch deutlich, dass Gott mit dem Virus uns nicht gezielt angreifen will. Das Virus betrifft alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Standes und ihres Verhaltens.

Bei der Einordnung des Coronavirus als „Strafakt Gottes“ handelt es sich vielmehr um einen althergebrachten Reflex, abgeleitet vom sogenannten „Tun-Ergehen-Zusammenhang“. Dieser besagt, dass jede menschliche Handlung Konsequenzen nach sich zieht. Es ist aber ein Trugschluss, Unglück als Folge von Fehlverhalten oder Sünde zu deuten. So einen Zusammenhang gibt es nicht. Aufgehoben wurde der im Buch Hiob, dem es nicht schlecht ging, weil er etwas falsch gemacht hatte. Ebenso wenig kann man den Teufel für die derzeitige Krise verantwortlich machen. Christenmenschen glauben an einen Gott, da bleibt kein Platz für einen selbstständigen Teufel daneben.

Einbrüche von natürlichen Vorgängen wie Krankheitserregern oder Klimaveränderungen weisen uns Menschen vielmehr darauf hin, dass wir nicht gut beraten sind, wenn wir unsere Abhängigkeit von der Natur leugnen. Die Natur wird im Zweifelsfall stets die Stärkere sein. Auch das, was wir als Zivilisation aufbauen, muss jederzeit damit verbunden sein, dass wir das Natürliche in seiner Bedeutung respektieren. All das bedeutet aber nicht, dass wir die Situation hinnehmen und alles auf uns zukommen lassen sollen.

Im Gegenteil: Die Schöpfungserzählung ist sich bewusst, dass die Natur durch den Menschen gebändigt und kontrolliert werden muss. Auch diese Erkenntnis steht gegen die biblische Vorstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs (Sprüche 10,3 und 11, 31). Stattdessen überträgt Gott dem Menschen als sein Ebenbild gleich am Anfang der Schöpfung die Autorität und die Fähigkeiten die chaotischen Kräfte der Natur zu bändigen (1. Mose 1, 26). Gott verzichtet auf seine Allmacht über die Schöpfung und gibt den Menschen die Freiheit über seine Schöpfung zu verfügen. Somit dürfen und sollen wir Menschen als Ebenbild Gottes selbst im Rahmen unserer Fähigkeiten schöpferisch-kreativ tätig sein und auch ent- und unter-scheiden, zwischen dem was in der oder gegen die Krise hilft oder nicht. Am Ende dürfte eine der wichtigsten Lehren aus dieser Zeit sein, dass auch der Mensch, Bewahrer*in oder nicht, selber nur ein Teil der Schöpfung ist.

 

Mit Gott in der Krise

Aber auch mit der gottgegebenen Autorität und unseren vielen Fähigkeiten, bleiben wir Menschen als Teil der Schöpfung bzw. Geschaffene Gottes in unseren Möglichkeiten immer begrenzt. In der rasanten Entwicklung der Ereignisse können wir nicht alles überblicken und nicht überall da sein, um zu helfen. Vor allem Situationen von Krankheit und Tod machen uns unsere menschlichen Grenzen bewusst. Oft ertappen wir uns dann bei der Frage, warum und ob Gott solche Grenzerfahrungen zulässt. Gott erscheint uns plötzlich abwesend und verborgen. Wir fühlen, wie sich über die von uns geschaffenen Ordnungen und Strukturen die Mächte der Finsternis und des Chaos wieder ausbreiten. Dann erscheint es uns, als ob wir mit all den bösen Geschehnissen von Gott im Stich gelassen sind.

Aber auch das kann nur eine Wahrnehmung sein, die es aufzulösen gilt. Denn eins ist sicher: Gott hat sich von Anfang der Schöpfung an dafür entschieden immer auf der Seite allen Lebens zu sein. Seit Anbeginn der Schöpfung leidet er mit. Am Deutlichsten ergreift Gott im Kreuzestod Jesu Christi Partei für uns Menschen. Er lässt uns mit unserem Leid und den Problemen nicht allein.

Die Bibel ist voll von Erzählungen, in denen Gott Entscheidungen zugunsten des Lebens trifft. Gott radikalisiert dabei seine Entscheidung, indem er auch dort handelt, wo scheinbar keine Aussicht auf Leben vorhanden ist. Insbesondere die Psalmen zeigen dies, wenn die BeterInnen sich in schwerer Krankheit und der daraus folgenden soziale Ausgrenzung im Raum des Todes wähnen (Psalm 88). Denn ohne die Teilnahme am zwischenmenschlichen Leben und ohne Gelegenheit Gott öffentlich zu loben und zu preisen (Psalm 22, 23) sind sie vom Raum des Lebens abgeschnitten. Aber auch hier lässt Gott die Psalmbeter*innen nicht im Stich. Wenn die Psalmbeter*Innen mitten im Psalm Gott für die Befreiung von ihrem Leid loben und preisen, dann hat sich Gott auch hier durch sein schöpferisches Wirken zur Wende vom Raum des Todes zum Leben hin entschieden.

Die radikalste Erzählung einer Wende vom Tod zum Leben hin sehen wir beim Kreuzestod Jesu. Gott selbst setzt sich den lebensfeindlichen Mächten des Chaos aus und geht den Weg eines Sterbenden – bis zum Schluss. Aber selbst im Tod findet die Schöpfermacht Gottes kein Ende. Gott errichtet auch hier wie bei der ersten Schöpfung eine neue Grenze, durch die der Tod keine Macht mehr über das Leben hat. Die Auferstehung von Gottes Sohn Jesus Christus, der zu einem neuen Leben jenseits des irdischen Lebens übergeht, zeigt Gottes finale Entscheidung für das Leben. Die Auferstehung Jesu Christi beflügelt dabei Christ*innen seit fast 2000 Jahren, dass Gott in den schwersten Krisen Räume des Lebens eröffnen kann.

 

In der Krise entschieden handeln

Wie gehen wir mit dieser Botschaft nun praktisch mit der Corona-Krise praktisch um? Als eine Krise eröffnet auch sie uns auch einen Raum für Entscheidungen und Unterscheidungen, die im Sinne des Lebens sein können. An der Seite Gottes und seines Sohnes Jesus Christus dürfen und sollen wir unsere von Gott verliehenen Fähigkeiten zur Lösung der Krise und der Eindämmung des Virus einsetzen. Im entschiedenen Einsatz für das Leben achten wir dabei darauf, dass wir unser eigenes und das Leben anderer nicht gefährden. Wir entscheiden uns zur Hilfe für das Leben aller Menschen, ganz egal welchen Alters, welcher Herkunft und welcher Gruppenzugehörigkeit. Vor allem Menschen, die in ihren Häusern durch Einsamkeit und Krankheit auf sich gestellt sind, bedürfen unserer besonderen Aufmerksamkeit. Wir kümmern uns, dass für sie und alle anderen Menschen die Verbindung zum Leben nicht abreißt. Durch Telefongespräche, Einkaufsdienste und andere Hilfeleistungen versuchen wir die Verbindung zum alltäglichen Leben aufrechtzuerhalten. Damit am Ende nicht das Chaos, sondern das Leben gewinnt.

Wenn wir uns alle dafür entscheiden, die erforderlichen Schritte für das Leben einzugehen, können wir die lebensgefährdende Chaosmacht des Virus in den Griff bekommen. Denn im Vertrauen darauf, dass Gott selbst aus Chaos und Tod Leben schaffen kann, haben wir die Hoffnung, dass wir selbst in der Krise der Corona-Pandemie nicht von Gott geschieden sind. Frei nach Jesaja 54, 10 kann es dann heißen: „Es sollen Geschäfte schließen und das öffentliche Leben ausfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.“

 

Oder mit den Worten Luthers: „Wohlan, der Feind hat uns durch Gottes Verhängnis Gift und tödliche Krankheit herein geschickt, so will ich zu Gott bitten, dass er uns gnädig sei und wehre. Danach will ich räuchern, die Luft reinigen helfen, Arznei geben und nehmen. Orte und Personen meiden, da man meiner nicht bedarf, auf dass ich mich selbst nicht verwahrlose und dazu durch mich vielleicht viele andere vergiften und anstecken und ihnen so durch meine Nachlässigkeit Ursache des Todes sein möchte. Will mich indes mein Gott haben, so wird er mich wohl finden, so habe ich doch getan, was er mir zu tun gegeben hat, und bin weder an meinem eigenen noch an anderer Menschen Tode schuldig. Wo aber mein Nächster mein bedarf, will ich weder Orte noch Personen meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen, wie oben gesagt ist. Siehe, das ist ein rechter, gottesfürchtiger Glaube, der nicht dummkühn noch frech ist und auch Gott nicht versucht.“[6]

 

[1] Schüle, Andreas, Die Urgeschichte (Gen 1-11), Zürich 2009 (= ZBK.AT 1/I).

[2] Losch, Andreas, Gott und das Virus, https://www.theologie-naturwissenschaften­.de/startseite/­leitartikel­archiv­/­­gott-und-das-virus/.

[3] Magnus Striet im Gespräch mit Christiane Florin, https://www.deutschlandfunk.de/theologie-und-corona-besonnen-durch-die-glaubenskrise.886.de.html?dram:article_id=472847.

[4] https://taz.de/Russisch-Orthodoxe-mit-Brandbrief/!5672951/.

[5] https://www.katholisch.de/artikel/24830-corona-als-strafe-gottes-scharfe-kritik-an-churer-weihbischof.

[6] Martin Luther: „Ob man vom Sterben fliehen möge – Brief an Johannes Heß (1527)“, Weimarer Ausgabe Bd. 23, S. 365-366